17. Oktober 1961. Heute war mal wieder Gruppenschulung angesagt. Thema: Die Ballistik. Sonst war es ein Tag wie jeder andere in der Blücher-Kaserne. Wir hatten unsere Stube zum Klassenzimmer umfunktioniert und Stabsunteroffizier Heinrichs fühlte sich bewogen uns zu erklären was mit der Kanonenkugel passiert, wenn sie das Rohr verlässt. Wir waren froh, in der warmen Stube zu sitzen, denn draußen war es nur knapp 5°. Damit wir nicht gestört werden, hatte ich ein Schild gemalt, auf dem der Ausbilder mit einem Zeigestock an der Tafel stand. Alle 12 Rekruten auf der Darstellung schliefen mit dem Kopf auf der Tischplatte. Darüber stand:
Ruhe bitte!
5. Gruppe hat Unterricht
Heinrichs war nicht der geborene Vortragskünstler und hatte sich deshalb seinen etwas wortgewandteren Hilfs-ausbilder den Gefreiten Fritz zur Seite gestellt. Der hatte auch nicht viel Ahnung, aber er bemühte sich wenigstens in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen.
Die ersten 15 Minuten brauchte Heinrichs immer, um uns zu erklären, wie genial und großartig er war. Wir wussten nach einer Viertelstunde, dass er sich selbst sehr gut leiden konnte und alles andere um ihn herum war Dreck.....Scheißdreck!
Heinrichs eröffnete das Thema mit den Worten: „So, jetzt kümmern wir uns erstmal um die Ballistik.“ Er machte mich darauf aufmerksam, dass dieses Thema für mich besonders wichtig sei, weil ich in der Kompanie der Panzergrenadiere, der einzige war, der mit roten, statt grünen Kragenspiegeln herumlief. Ich war in seinen Augen gewissermaßen ein Fremdkörper, ein Artillerist zwischen 143 Panzergrenadieren. Später in Unna kam ich zum „DivTop“ (Divisions-Topograf) und die Truppe war dem Artillerieregiment 7, Lippstadt unterstellt. Der Gefreite Fritz begann mit seinen Ausführungen: „Wenn die Kanone das Geschoss abfeuert, fliegt das in einer gebogene Fluglinie nach unten und da gibt es:
1.0 Die theoretische Flugbahn
2.0 Die parable Flugbahn
3.0 Die ballistische Flugbahn
Er gab zu, dass er von den drei Möglichkeiten nur so am Rande etwas mitbekommen hat. Er war ja Panzergrenadier und die müssen das nicht so wissen. Schaute mich an und krächzte: "Kanoniere aber schon!" Das Geschosse aus einem Gewehr oder Panzer den gleichen Naturgesetzen unterliegen, darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Deshalb hielten ihn seine Vorgesetzten wohl für besonders befähigt, uns in diesem Fach zu schulen. Das Thema lag sehr und ich freute mich darauf, Heinrichs in die Enge zu treiben. Im Alter von 15 Jahren habe ich mich mit meinem Freund Alfred Enste, seriös mit der Entwicklung von Raketenantrieben beschäftigt und zu diesem Thema gehörte auch in gewisser Weise die Ballistik. Ich war gerade im Begriff an die Tafel zu gehen, um die Formel aufzuschreiben und zu erläutern, als es an die Tür klopfte und der Kompaniechef Baumann trat ein. Heinrichs schrie in Kasernenhof-lautstärke: „Achtung!“ Für uns hieß es, aufspringen, Hände an die Hosennaht und stramme Haltung mit Front zum Chef annehmen. Der sagte jovial, beinahe väterlich: „Setzt euch Männer. Ich habe eine kurze Frage: Wer hat das Schild gemalt?“ Ich sprang wieder auf und meldete: „Ich Herr Hauptmann, Kanonier Gerstenköper!“ Er schaute mich kurz an und sagte nur: „Wenn ihr hier fertig seid, melden sie sich bei UA Zeppenfeld in meinem Vorzimmer.“ „Jawohl Herr Hauptmann, bei UA Zeppenfeld melden!“ Mir machten diese zackigen Meldungen riesigen Spaß, weil ich die Art zu kommunizieren für blödsinnig hielt. Ich hoffte immer, dass es mein Gegenüber erkennen konnte. Leider entsprach mein Verhalten den Vorschriften und die Vorgesetzten mußten es so hinnehmen.
Der Hauptmann machte kehrt und verließ die Stube. Heinrichs, wie von der Tarantel gestochen schrie mit etwas Verspätung Achtung!, als die Tür bereits ins Schloss gefallen war. Wir blieben sitzen. Heinrichs guckte in solchen Fällen, mit denen er nicht umgehen konnte, etwa so wie mein Dackel. Aber nach kurzer Bedenkzeit hatte er sich gefasst und setzte er ein schadenfrohes Grinsen auf: „Na Oberkanonier, das wird ein schönes Donnerwetter geben!“ Wenn irgendetwas im Busch war, sprach Heinrichs mich nur mit Kanonier an und nur in Ausnahmefällen Oberkanonier. Sein Gehirn war ungeübt im Denken, weil er es so wenig benutzte. Schnelles Umdenken war nicht so sein Ding. Deshalb kam es oft zu derartigen unsinnigen Äußerungen. Es fiel ihm sehr schwer, sich meinen Nachnamen zu merken und so rief oder brüllte er entweder Kanonier, Oberkanonier oder nach dem Warsteiner.
Auweia, was will denn der Kompaniechef denn von mir. So schlimm war das doch nicht mit dem Schildchen und beleidigt habe ich doch auch niemand. Ich eilte, mit einem etwas mulmigen Gefühl zum Vorzimmer des Kompaniechefs in die untere Etage. Im Vorzimmer saß üblicher Weise der Hauptgefreite und Unteroffizieranwärter (UA) Anton August Johannes Zeppenfeld.
Der war schon als Gefreiter UA und als Obergefreiter war er immer noch UA, und selbst als Hauptgefreiter war er noch UA! Ich hatte ihm mal prophezeit, das er als Feldwebel immer noch UA sein wird. Seine Antwort darauf: "Du bist ja blöde, das geht doch garnicht." Ich stimmte ihm zu und er konnte sich aussuchen, ob ich blöde bin oder ob es nicht möglich ist als Feldwebel Unteroffizieranwärter zu sein.
Vor Hauptgefreiten hatten wir großen Respekt. Die kannten den Barras durch und durch und hatten den Bogen raus, wie man den Tag ohne körperlichen und vor allen Dingen ohne geistige Anstrengungen rum brachte und wie man perfekt Schuld am persönlichen Versagen anderen in die Schuhe schieben konnte.
Als ich die Tür zu seinem Büro aufmachte, kniete er wie ein Riesenschnauzer der zum Sprung ansetzte auf seinem Schreibtisch, bewaffnet mit einer sehr spitzen Reißnadel und just in dem Moment, in dem ich die Tür aufmachte, holte er wie ein Dartspieler aus und feuert die Reißnadel an meinem rechten Ohr vorbei in die Deutschlandkarte und traf dabei Brilon im Sauerland. Mein Kommentar: „Bist du bekloppt, du hättest mich treffen können!“ Das war von Anton Zeppenfeld ein weiterer erfolgloser Versuch, die Fliege zu erlegen, die ihn schon den ganzen Tag ärgerte. Er war ein miserabler Werfer. Auf der Karte hatte er bereits Hamburg, Bad Salzuflen und das Stadion von Schalke 04 getroffen, aber die Fliege ärgerte ihn immer noch, sie schien ihm wohl mit taktischen Flugmanövern weit überlegen zu sein. In diesem Augenblick kam der Kompaniechef aus seiner Tür. Zeppenfeld sprang vom Schreibtisch und stand mit einem Fuß in seinem Papierkorb. „Zeppenfeld, sie werden auch immer blöder!“ stellte der Hauptmann kopfschüttelnd fest und winkte mich in sein Büro. Mein Schild lag vor ihm auf dem Schreibtisch. „Passen sie auf Kanonier, eh, wie heißen sie eigentlich richtig? Er wartete nicht ab, bis ich meinen Namen sagen konnte und fuhr fort: "Ich bekomme in 3 Wochen Besuch von der Nato, da sind 5 Nationen vertreten und ich stelle mir vor, sie zeichnen mir von den Nationen je ein Bild mit den entsprechenden Dienstgradabzeichen von deren Streitmacht.“ „Geht das?“ Ich sah mir seine Vorlagen an und erklärte ihm, dass die Zeit zu knapp bemessen ist, weil ich ja erst meinen Dienst erledigen muss und dann danach immer diese vielen Appelle! Aber rein technisch sei das kein Problem. „Ich spreche gleich mit dem Spieß. Sie sind hiermit für drei Wochen vom Dienst befreit, außer Stubenappell natürlich.“ Ich erklärte ihm, dass ich auch entsprechendes Zeichenmaterial brauchte und das gäbe es wahrscheinlich nur in Menden bei Wilhelm Kissing. Ich kannte den Laden, weil ich beruflich schon viel damit zu tun hatte. „Nehmen Sie sich die Zeit, die sie brauchen und der UA soll sie fahren.“ Ich besaß zwar schon einen privaten Führerschein für alle Klassen, aber der wurde von der Bundeswehr nicht anerkannt. Für mich begannen 3 tolle
Wochen. Keine Geländeübungen mehr, kein Stress mit Heinrichs usw. Als ich das Zimmer des Chefs verließ, sah ich einen glücklich strahlenden Unteroffizieranwärter: "Ich habe sie!" Zeigte auf die Karte bei Braunschweig klebte die Fliege aufgespießt von seiner Reißnadel. Ich sagte heuchelnd: "Zeppi du bist ein Held, ich werde dich für das Eiserne Kreuz mit Eichenlaub vorschlagen." Bei der Aktion hatte er Köln-Porz, Freiburg im Breisgau und die Innenstadt von Castrop-Rauxel total zerstört. "Jetzt aber mal ernst Zeppi, du sollst mich nach Menden fahren, besorg mal morgen früh ein Auto und 100 Mark.“ Zeppi machte ein leidvolles Gesicht: „Woher soll ich das Geld besorgen?“ Ich konnte soviel Dummheit auf einem Haufen nicht fassen und sagte: „Vom Kantinenpächter!“ Zeppi: „Wie...., vom Kantinenpächter Geld besorgen?“ Der Hauptmann hatte recht, Zeppenfeld wurde immer blöder. „Ach so, außerdem sollst du mir eine Bude im Kompaniegebäude frei machen, wo ich in Ruhe zeichnen kann“ Zeppenfeld machte das, was er am besten konnte, doof aus der Wäsche gucken. „Eine Bude für dich alleine mit Bett?“ fragte er geistesabwesend? Erst wollte ich sagen, dass es ein Büro und kein Schlafzimmer wird, aber dann fiel mir ein, dass ein "Künstler" wie ich, bei soviel Vergeudung von künstlerischer Schaffenskraft, sich die eine oder andere Erholungspause unbedingt gönnen sollte und wo geht es besser als in einem Bett. „Ja klar Zeppi, mit Bett und Bettzeug. Wenn es mal spät wird, kann ich da auch mal übernachten.“ Für Zeppenfeld klang das plausibel aber meinem Wunsch nach Waschbecken und fließendem Wasser wimmelte er mit dem Kommentar: „Du hast sie wohl nicht mehr alle, das hat hier keiner.“
Am nächsten Tag stand für die Kompanie ‘Schießen‘ auf dem Dienstplan. Aus meinem Fenster sah ich zu, wie die armen Jungs mit Tischen und Stühlen beladen zum Schießplatz marschierten. Eine halbe Stunde später kam Zeppenfeld. Er hatte einen DKW Geländewagen besorgt und wir fuhren nach Menden. Auf dem Weg dahin erzählte er mir, dass er in einem Briloner Orchester das Waldhorn bläst und das schien sein Lieblingsthema zu sein. Er redete und redete davon und stellte sich als besonderes musikalisches Talent dar. Ich versuchte, ihn von dem nervigen Thema abzubringen, aber auf die gutmütige Art klappte das nicht. Obwohl ich bis heute ein großer Musikliebhaber bin, musste ich meine Leidenschaft verleugnen und ihm vor flunkern, dass ich mich ganz und gar nicht für Musik interessierte und total unmusikalisch bin, dass mich Musik unheimlich nervt. Etwas verschnupft hielt er für den Rest der Fahrt seine Klappe.
Was ein Leben. Für drei Wochen war ich beinahe unantastbar und verbrachte eine wunderbare Zeit mit meiner Lieblingsbeschäftigung, der Zeichnerei. Aber ich machte mir auch Gedanken über die Zeit danach. Draußen wurde es immer kälter und Schnee lag in der Luft. Ich fand ein Leben ohne Geländeübungen sehr angenehm. Was ist, wenn ich mit der Zeichnerei fertig bin. Käme ich mit dem einfachen Leben mit Entbehrung und Matsch noch zurecht? Ich müsste mich am Ende wieder von dem Vollpfosten ohne Portepee rumschupsen lassen. Für denjenigen, der einmal aus dieser Tretmühle entronnen war, ist der Gedanke daran sehr belastend. Noch einmal alles wieder auf Anfang? Schrecklich! Zunächst aber war die Welt noch in Ordnung. Der Kompaniechef besuchte mich täglich pünktlich um 14:00 Uhr im Dachgeschoss in meinem `Atelier.` Er war sehr zufrieden mit dem was er sah. „Sie müssen auch noch Rahmen besorgen!“ Die hängen sie mir dann, wenn sie fertig sind mit ihrer Arbeit, bei mir im Büro auf.“ Nach zwei Wochen hätte ich schon fertig sein können, aber das würde ja bedeuten, dass ich mich mit meiner Zeitkalkulation verschätzt hätte.
Die Fahrt nach Menden musste sorgfältig durchgeplant werden. Wann fahren, wann ankommen, wie lange dauert der Termin, wann treten wir die Rückfahrt an? Inzwischen hatte man mir auch ein Telefon in mein Büro gelegt und ich rief den Fliegenfänger Zeppenfeld an und sagte ihm: „Zeppenfeld, pass auf, der Kompaniechef hat befohlen, dass du mich nach Menden fährst, um Bilderrahmen zu kaufen. Besorge eine Auto und Geld oder eine Bescheinigung, dass die Bundeswehr die Rahmen bezahlt. Gibt es da ein entsprechendes Geschäft?“ Zeppenfeld spontan: „Bockel-mann“ „Gut, dann bis morgen um halb drei, bis wir da ankommen ist der Laden geöffnet. Sei pünktlich.“
Zeppenfeld war pünktlich und ich suchte drei Sorten der Rahmen aus, von denen ich wusste, dass sie dem Kompaniechef nicht gefallen werden. So war es dann auch, und den Tag drauf fuhren wir wieder los. „Warum nicht gleich so!?“ rief Baumann. Mit dem Einrahmen lies ich mir Zeit, weil meine 3 Wochen noch nicht ganz um waren.
Als wir zurück waren in der Kaserne, sah Heinrichs uns ankommen und steuerte direkt auf mich zu. „Na, Warsteiner, lässt dich ja rumkutschieren wie ein General, aber du weißt ja, die Zeit ist bald um, dann gehst du wieder mit mir ins Gelände. Das ist gut für die Durchblutung und verleiht dem Arsch eine rosige Gesichtsfarbe!“ Ja, so war Heinrichs. Meine Antwort:
„Herr Stabsunteroffizier, ich freue mich schon sehr darauf!“
Ich war einen Tag in meinem „Künstleratelier“ als Zeppenfeld mich besuchte. “Du sollst sofort zum Kompanie-chef kommen!“ Der Hauptmann machte ein Gesichts-ausdruck, aus dem ich alles entnehmen konnte, nur nichts Gutes. Er begrüßte mich mit: „Na, mein Lieber, wie geht es?“ So hatte er mich noch nie angesprochen. „Habe gerade einen Anruf bekommen, sie sollen ab nächster Woche in Unna beim Stab mit der Fahrschule beginnen, weil man vorgesehen hat, dass du als Ersatzfahrer vom Ersatzfahrern für General Manthey fungieren sollst. Da werden nur Soldaten genommen, die schon Fahrpraxis haben und sie haben ja schon mit 18 Jahren den Führerschein Klasse drei gemacht." "Mit den Bildern sind sie ja dann fertig und dafür herzlichen Dank, das haben sie gut gemacht. Aber ich habe noch ein weiteres Anliegen, ich brauche noch einen etwa zwei Meter großen NATO Stern an der Wand hinter meinem Schreibtisch. Heute habe ich mit Hauptmann Schulze in Unna telefoniert, er ist der Div. Top. der Siebten." (Divisions-Topograf der 7. Panzergrenadierdivision und spätere 7. Panzerdivision) "Er ist auf ihren Besuch vorbereitet. Von dem können sie alles an Gestaltungsmaterial bekommen was sie brauchen."
Nachdem die Tür des Geschäftszimmer hinter mir ins Schloss fiel, blieb ich für einen Augenblick regungslos stehen. Ich war überwältigt von meinem Glück und mußte erst einmal die Unterredung verdauen. Ich hörte mich ungläubig sagen: "Das gibt es doch nicht!" Von soviel Glück beseelt, machte ich mich mich mit schnellen Schritten auf den Weg zum meinem Atelier. Auf dem Flur kam mir Heinrichs entgegen und faxte hämisch herum: "Na, den Arsch voll gekriegt?" Ich sagte: "Nee." und ging weiter. Irgendwie hatte ich Heinrichs garnicht wahrgenommen. Erst als er hinter mir her schrie: "Wie heißt das, Herr Oberkanonier?" Ich drehte mich um, baute Männchen und sagte: "Jawohl Herr Stabsunteroffizier!" Drehte mich wieder um und schwebte auf meiner Wolke sieben weiter in Richtung Obergeschoss. Dort schmiß ich mich auf mein Bett und starrte die Decke an. Der Fahrschullehrgang dauert sechs Wochen, also die halbe Grundausbildung! Heute würde man sagen "Geil!" ich fand es "Toll!" Ich war ein Glückspilz. Sozusagen, das vorzeitige Ende der Grundausbildung. Aber der Rest konnte auch noch "heiter" werden. Mal sehen, ob ich da noch etwas dran drehen kann. Ich fühlte mich als Glückspilz.