Auch meine Oma Amalie aus Castrop war sicher, dass es beim Militär nicht genug zu essen gibt und meine Tante Anna aus Lippstadt empfand ebenso. Beim Antreten und der Postausgabe hatte ich neben den vielen Briefen, beinahe genauso viele Esspakete. Wenn wir durch waren, mussten mir die Stubenkameraden beim Tragen helfen. Mein Speisefach platze aus allen Nähten. Der Inhalt des Sturmgepäcks bestand im Wesentlichen aus Dosen mit Fisch, Fleisch und Würstchen, aber es wurden auch selbstgestrickte warme Socken geschickt. Zum Geburtstag gab es noch Zusatzrationen, wie Plätzchen und Kuchen. Meine Kameraden der Stube 217 bekamen lediglich mal eine Karte oder einen Brief. Auf meinem Geburtstag war ein kleiner Marsch von Hemer nach Menden und zurück angesagt, mit viel Gesang und guter Laune. Mein Gepäck bestand aus einem prall gefüllten Sturmgepäck. In der Hosentasche hatte ich einen Dosen- und einen Flaschenöffner und mehrere Löffel und Gabeln. Die Jungs der 5. Gruppe bedienten sich ohne, dass ein Ausbilder etwas gemerkt hat. Ab und zu bekam ich auch mal ein Bockwürstchen oder eine Frikadelle ab.
Auf dem Rückweg wurde das Lied „Auf der Heide wächst ein Blümelein“ angestimmt. Obwohl ich gerne Musik hörte und meine Mutter und meine Oma im Chor gesungen haben, war selber singen nicht mein Ding. Ich hätte sehr gerne eine gute Singstimme gehabt, aber es sollte nicht sein. Also bewegte ich einfach nur den Mund und sparte auf diese Weise auch noch Energie. Das ging nur ein einziges Mal schief. Während unser Kamerad Bernhard Homberg mit seiner gewaltigen Stimme die gesamte Kompanie übertönte, markierte ich nur und hatte den Ton aus meinem Beitrag rausgenommen. Da ich mit Begeisterung mit der Mimik meines tonlosen Playback beschäftigt war, merkte ich erst zu spät, dass sich zu meiner Linken das Ohr eines Hauptfeldwebels ganz langsam in mein Gesichtsfeld schob. Und dann erkannte ich den Spielverderber, den Spieß Schueler. Reflexartig sang ich „Auf der Heide...“ aber da war die Kompanie schon bei „...und das heißt Erika“ und dann kam, was kommen mussten, Gebrüll: „Da ist der Kerl zu faul zum Singen und macht nur den Mund auf und zu!“ Ich brüllte so laut ich konnte zurück: „Ich hatte mich verschluckt und wollte mit meinem Gesang nicht stören Herr Oberfeld!“ Und dann legte ich los. So laut und so schräg ich nur konnte stimmte ich ein, aber absichtlich nicht synchron: „Auf der Heide blüht ein Blümelein“ Schueler verzog die Miene befahl lauthals: „Mensch halten Sie bloß ihre Klappe, da bekommen ja die Mäuse Junge!“
Anlässlich meines Geburtstages hatten sich für Sonntag meine Eltern angekündigt. Unteroffizier Hartmann musste sie vom Tor abholen und bis zu unserer Stube begleiten. Wie üblich, wurde dazu die Ausgehuniform mit weißem Hemd getragen. Meiner Mutter, eine ordentliche und saubere Frau, viel sofort auf, dass Hartmann sein Hemd sehr lange nicht gewaschen hatte. Der Hemdkragen war in Hals- und Nackenbereich derart schmutzig, dass sie sich gewundert hat, dass diese Typen unsere Ausbilder und unsere Vorbilder sein sollten. Außerdem war die Hose wohl in 1961 nicht einmal gebügelt worden.
Hartmann „übergab“ mir meine Eltern und erklärte, dass die Besuchszeit um 16:00 Uhr endet und er meine Eltern abholt, um sie bis zum Kasernentor zu begleiten. Zunächst machten wir in unserer Stube ein Kaffeekränzchen. Alles was dafür erforderlich war, hatten meine Eltern mitgebracht. Mein Vater wollte sich natürlich ein Bild machen und vergleichen, ob es hier genauso hart zugeht wie zu seiner Militärzeit. Er kam schon mit einer vorgefassten Meinung an, nämlich, dass es bei der Wehrmacht einen viel härteren Drill gab als bei uns, und dass wir doch ein schönes Leben führen. Eigentlich wollte ich meiner Mutter zur Liebe meine geschundenen Arme und Beine nicht zeigen, aber letztlich zog ich doch meine Hemdsärmel hoch und zeigte die aufgescheuerten und blutverkrusteten Ellbogen und Unterarme. Mutter schlug sich die Hände vor den Mund und weinte. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte sich den Hartmann vorgenommen. Meine Mutter ertrug es nicht, wenn andere Erwachsene mir gerechtfertigt oder ungerechtfertigt etwas antaten. Von meinem Klassenlehrer bekam ich einmal eine derart kräftige Ohrfeige, dass ich es zuhause nicht verbergen konnte. Am Tag drauf wurde während eines Diktats die Klassentür aufgerissen und meine Mutter stürzte herein, packte den Lehrer an den Kragen und mit voller Wucht haute sie ihm ihre Handtasche um die Ohren: „Sie schlagen meinen Sohn nicht!“ Egal, was ich in der Schule anstellte, Ohrfeigen bekam ich nicht mehr. Das hätte Hartmann wissen müssen! Neben den vielen essbaren Geschenken hatten sie mir ein elektrisches Bügeleisen mitgebracht. Ich glaube, in der gesamten Kompanie gab es kein zweites. Nachdem wir noch einen kleinen Rundgang durch die Kaserne gemacht haben, war es auch schon Zeit, Abschied zu nehmen. Hartmann war pünktlich und hat über irgendetwas gemeckert und damit meine Mutter gereizt. Ich sehe sie noch heute vor dem kleineren Hartmann stehen und ihr Donnerwetter prasselte auf ihn nieder. „Bevor Sie die Jungs hier quälen, sollten sie sich erst einmal anständig anziehen und ihr dreckiges Hemd waschen und ihre Hose bügeln.“ Ich hatte meine Mutter noch nie so erlebt und sie war kaum zu beruhigen: „Sie wollen Vorbild sein, schauen Sie mal in den Spiegel. Pfui, schämen sie sich!“ Eigentlich ist er noch einmal gut davongekommen.
Nachdem Sie weg waren, ist mir Hartmann über den Weg gelaufen und ich hatte erwartet, dass er sich entsprechend äußert. In den verbleibenden Wochen hat er nie wieder mit mir gesprochen und ich meine, er ist mir sogar absichtlich aus dem Weg gegangen. So, nun war ich Besitzer eines elektrischen Bügeleisens und die Stube 217 hatte die schärfsten Kniffe in der Hose. Irgendwann viel das Heinrichs auf und er wollte wissen, wer das Bügeleisen besitzt. So kam er dann auch eines Tages an und warf mir drei seiner Hosen auf den Tisch: „Bis morgen bügeln!“ Ich habe dann selbst über mich gestaunt als ich zur Antwort gab: „Ich glaube es hackt, mit Sicherheit werde ich für niemanden hier die Hosen bügeln."
Am nächsten Tag stand für die Kompanie ‘Schießen‘ auf dem Dienstplan. Aus meinem Fenster sah ich zu, wie die armen Jungs mit Tischen und Stühlen beladen zum Schießplatz marschierten. Eine halbe Stunde später kam Zeppenfeld. Er hatte einen DKW Geländewagen besorgt und wir fuhren nach Menden. Auf dem Weg dahin erzählte er mir, dass er in einem Briloner Orchester das Waldhorn bläst und das schien sein Lieblingsthema zu sein. Er redete und redete davon und stellte sich als besonderes musikalisches Talent dar. Ich versuchte, ihn von dem nervigen Thema abzubringen, aber auf die gutmütige Art klappte das nicht. Obwohl ich bis heute ein großer Musikliebhaber bin, musste ich meine Leidenschaft verleugnen und ihm vorflunkern, dass ich mich ganz
Hosen bügeln!“ Heinrichs schluckte nahm seine Hosen wieder auf den Arm mit den Worten: „Wir sprechen uns noch!“ Er hat Wort gehalten, am nächsten fragte er mich, so als sei nichts vorgefallen: „Leihen Sie mir es wenigsten einmal ihr Bügeleisen?“ Das habe ich ihm dann hin und wieder geliehen. Hilfsausbilder Fritz hat dann Heinrichs Hosen gebügelt und seine eigenen mit. In dieser Zeit verschonte mich Heinrichs mit seinen willkürlichen Attacken.
und gar nicht für Musik interessierte und total unmusikalisch bin, dass mich Musik unheimlich nervt. Etwas verschnupft hielt er für den Rest der Fahrt seine Klappe.
Was ein Leben. Für drei Wochen war ich beinahe unantastbar und verbrachte eine wunderbare Zeit mit meiner Lieblingsbeschäftigung, der Zeichnerei. Aber ich machte mir auch Gedanken über die Zeit danach. Draußen wurde es immer kälter und Schnee lag in der Luft. Ich fand ein Leben ohne Geländeübungen sehr angenehm. Was ist, wenn ich mit der Zeichnerei fertig bin. Käme ich mit dem einfachen Leben mit Entbehrung und Matsch noch zurecht? Ich müsste mich am Ende wieder von dem Vollpfosten ohne Portepee rumschupsen lassen. Für denjenigen, der einmal aus dieser Tretmühle entronnen war, ist der Gedanke daran sehr belastend. Noch einmal alles wieder auf Anfang? Schrecklich! Zunächst aber war die Welt noch in Ordnung. Der Kompaniechef besuchte mich täglich pünktlich um 14:00 Uhr im Dachgeschoss in meinem `Atelier.` Er war sehr zufrieden mit dem was er sah. „Sie müssen auch noch Rahmen besorgen!“ Die hängen sie mir dann, wenn sie fertig sind mit ihrer Arbeit, bei mir im Büro auf.“ Nach zwei Wochen hätte ich schon fertig sein können, aber das würde ja bedeuten, dass ich mich mit meiner Zeitkalkulation verschätzt hätte.
Die Fahrt nach Menden musste sorgfältig durchgeplant werden. Wann fahren, wann ankommen, wie lange dauert der Termin, wann treten wir die Rückfahrt an? Inzwischen hatte man mir auch ein Telefon in mein Büro gelegt und ich rief den Fliegenfänger Zeppenfeld an und sagte ihm: „Zeppenfeld, pass auf, der Kompaniechef hat befohlen, dass du mich nach Menden fährst, um Bilderrahmen zu kaufen. Besorge eine Auto und Geld oder eine Bescheinigung, dass die Bundeswehr die Rahmen bezahlt. Gibt es da ein entsprechendes Geschäft?“ Zeppenfeld spontan: „Bockelmann“ „Gut, dann bis morgen um halb drei, bis wir da ankommen ist der Laden geöffnet. Sei pünktlich.“
Zeppenfeld war pünktlich und ich suchte drei Sorten der Rahmen aus, von denen ich wusste, dass sie dem Kompaniechef nicht gefallen werden. So war es dann auch, und den Tag drauf fuhren wir wieder los. „Warum nicht gleich so!?“ rief Baumann. Mit dem Einrahmen lies ich mir Zeit, weil meine 3 Wochen noch nicht ganz um waren.
Als wir zurück waren in der Kaserne, sah Heinrichs uns ankommen und steuerte direkt auf mich zu. „Na, Warsteiner, lässt dich ja rumkutschieren wie ein General, aber du weißt ja, die Zeit ist bald um, dann gehst du wieder mit mir ins Gelände. Das ist gut für die Durchblutung und verleiht dem Arsch eine rosige Gesichtsfarbe!“ Ja, so war Heinrichs. Meine Antwort:
„Herr Stabsunteroffizier, ich freue mich schon sehr darauf!“
Ich war einen Tag in meinem „Künstleratelier“ als Zeppenfeld mich besuchte. “Du sollst sofort zum Kompaniechef kommen!“ Der Hauptmann machte ein Gesichtsausdruck, aus dem ich alles entnehmen konnte, nur nichts Gutes. Er begrüßte mich mit: „Na, mein Lieber, wie geht es?“ So hatte er mich noch nie angesprochen. „Habe gerade einen Anruf bekommen, sie sollen ab nächster Woche in Unna beim Stab mit der Fahrschule beginnen, weil man vorgesehen hat, dass du als Ersatzfahrer vom Ersatzfahrern für General Manthey fungieren sollst. Da werden nur Soldaten genommen, die schon Fahrpraxis haben und sie haben ja schon mit 18 Jahren den Führerschein Klasse drei gemacht." "Mit den Bildern sind sie ja dann fertig und dafür herzlichen Dank, das haben sie gut gemacht. Aber ich habe noch ein weiteres Anliegen, ich brauche noch einen etwa zwei Meter großen NATO Stern an der Wand hinter meinem Schreibtisch. Heute habe ich mit Hauptmann Schulze in Unna telefoniert, er ist der Div. Top. der Siebten." (Divisions-Topograf der 7. Panzergrenadierdivision und spätere 7. Panzerdivision) "Er ist auf ihren Besuch vorbereitet. Von dem können sie alles an Gestaltungsmaterial bekommen was sie brauchen."
Nachdem die Tür des Geschäftszimmer hinter mir ins Schloss fiel, blieb ich für einen Augenblick regungslos stehen. Ich war überwältigt von meinem Glück und mußte erst einmal die Unterredung verdauen. Ich hörte mich ungläubig sagen: "Das gibt es doch nicht!" Von soviel Glück beseelt, machte ich mich mich mit schnellen Schritten auf den Weg zum meinem Atelier. Auf dem Flur kam mir Heinrichs entgegen und faxte hämisch herum: "Na, den Arsch voll gekriegt?" Ich sagte: "Nee." und ging weiter. Irgendwie hatte ich Heinrichs garnicht wahrgenommen. Erst als er hinter mir her schrie: "Wie heißt das, Herr Oberkanonier?" Ich drehte mich um, baute Männchen und sagte: "Jawohl Herr Stabsunteroffizier!" Drehte mich wieder um und schwebte auf meiner Wolke sieben weiter in Richtung Obergeschoss. Dort schmiß ich mich auf mein Bett und starrte die Decke an. Der Fahrschullehrgang dauert sechs Wochen, also die halbe Grundausbildung! Heute würde man sagen "Geil!" ich fand es "Toll!" Ich war ein Glückspilz. Sozusagen, das vorzeitige Ende der Grundausbildung. Aber der Rest konnte auch noch "heiter" werden. Mal sehen, ob ich da noch etwas dran drehen kann. Ich fühlte mich als Glückspilz. So neigte sich die Zeit der Grundausbildung dem Ende zu. Ohne Wehmut packten wir unsere Utensilien zusammen und bestiegen die Ladeflächen der LKW vom Versorgungsbataillon 7, die uns nach Unna fuhren, einer besseren Zukunft entgegen.