Den Befehl: In Reih und Glied auszuführen, klappte bei den Frischlingen noch nicht und die Schreihälse zeigten dafür kein Verständnis, im Gegenteil, je schlechter es lief, umso lauter krakelten sie herum und umso deftiger wurden ihre Ausdrücke und deshalb wurde hier fleißig geübt. Die Kapos waren wie Wölfe, die auf eine Schafherde losgingen und die graue Masse aus Uniformen schwappte hin und her. Dann stand sie plötzlich wieder ganz still in Hufeisenform und dann mal wieder in Marschordnung. Eigentlich eine tolle Choreografie, nur die Musik und eine Wasserfontäne fehlte dazu und alles wäre perfekt gewesen.
Der Spieß hatte schon kundgetan, dass noch zwei Wehrpflichtige fehlen und rief noch einmal die Namen in die Runde. Keiner meldete sich. Beim Befehl: „ Die Augeeeen links “ erblickte ich zwei traurige Gestalten mit kleinem Gepäck den Weg zum Kompaniegebäude hochschleichen. Es war klar, dass jetzt wieder ein besonderes Schauspiel folgte. In dem Moment empfand ich kein Mitleid, denn wenn die sich nicht an die Zeiten halten können, sind sie selbst schuld, wenn sie jetzt einen auf den Deckel bekommen‘ Das alles ganz anders war, konnte ich nicht ahnen.
Und jetzt wurden die beiden Nachzügler Lülf und Mertens auch von den Ausbildern gesichtet. Als sähe er das siebte Weltwunder, baute sich der Spieß Oberfeldwebel Werney vor den beiden auf, wippte ein wenig vor und zurück, dabei machte ein äußerst interessiertes Gesicht. Mit der rechten Hand zog er sein Notizbuch aus seiner Uniformjacke. Er hatte immer den zweitobersten Jackenknopf offen und schob da sein Notizbuch rein. Wenn er einen Soldaten erwischte, der sich nicht so verhalten hat, wie es die Dienstvorschrift verlangte, machte er einen Eintrag. Seinen Bleistift trug er im Dienst immer hinter dem linken Ohr. Erst wenn er am Tag etwa 10 Rekruten aufgeschrieben hatte, war er zufrieden.
Wie ein Ober aus einem Wiener Caféhaus, begrüßte Werney die beiden Nachzügler: „Einen recht schönen guten Tag die Herren, sie sind bestimmt der Herr Günther Mertens und sie der Herr Manfred Lülf ?“ Die beiden nickten brav mit dem Kopf und dachten, der ist ja ganz nett. „Darf ich die beiden Herren höflichst fragen, ob sie eine gute Fahrt hatten und sicherlich hatte der Zug Verspätung oder der gleichen?“ Wirklich nette Leute hier dachte Günther und antwortete auf dem gleichen Freundlichkeitslevel dem netten Herrn in Uniform. Leider kannte er noch keine Dienstgrade und namentlich wurden sie sich noch nicht vorgestellt:
"Danke der Nachfrage Herr...? Ich habe leider Ihren Namen nicht verstanden? Unser Bus hatte am Bismarckturm einen Achsenbruch und deshalb kommen wir leider erst jetzt."
Werney lief vom Hals an rot an. Er wollte etwas sagen aber auf seinen Lippen bildete sich weißer Schaum und seine Stimme klang heiser und dünn. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder im Griff hatte: „Sosooo..., Sie kennen meinen Namen nicht und Achsenbruch hatten Sie auch Sie Panzerleiche. Sind wohl von allen guten Geistern verlassen? Noch nicht ganz da, und lügt schon schneller als ein Pferd läuft. Ihre Namen werde ich mir merken." Er holte ganz tief Luft und brüllte weiter: „Mensch, das mit dem Achsenbruch hätten Sie doch vorher wissen müssen – warum haben Sie nicht den Bus früher genommen?" Irgendwie logisch aber Günther war kein Hellseher. Werney brüllte weiter: "Hoffentlich sind Sie bald im Kompaniegebäude und besorgen sich Uniformen, damit sie als Mensch zu erkennen sind, lila ist hier nicht besonders gefragt!“ Inzwischen war Günthers lila Oberhemd so dermaßen schweißdurchtränkt, dass es tropfte und er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Sie schlenderten wie zwei Sommerfrischler mit ihrem Gepäck zum Kompaniegebäude und dummerweise gab gleichzeitig der Spieß den Befehl: „Kompanie weggetreten auf die Stuben, marsch, marsch!“ Hinter ihnen starteten auf dem Befehl vom Spieß 124 Soldaten in die gleiche Richtung. Die bereits Uniformierten hatten schon verinnerlicht, dass es hier nur einen Gang gab, den Laufschritt. So kam es, was kommen musste. Die beiden Neuen wurden von der grauen Masse überrollt. Hin und wieder sah man aus der Masse das lila Hemd aufblitzen. Mit der Wucht einer Nordseewelle wurden die beiden Zivillisten die Treppe am Haupteingang hochgespült und direkt in die Arme von Stabsunteroffizier Heinrichs . Der fletschte die Zähne und brüllte los: „Man glaubt es nicht, Zivilisten noch um diese Uhrzeit. Wohl verpennt heute Morgen. Jetzt aber los, eine Etage tiefer Klamotten abholen, Euch Typen sollte man ausstopfen“ Günther: „Ja aber wir müssen noch unsere zivilen Sachen in den Spind legen.“ Heinrichs: „Kaum hier und schon dicke Lippe riskieren und Widerworte geben. Euch behalte ich im Auge!“ Heinrichs wurde von einem sehr schwungvollen großen jungen Mann, von den Beinen gerissen und klammerte sich auf der Treppe sitzend an dem Treppengeländer fest.
Gute Gelegenheit für die beiden, zu verduften. Als er wieder auf den Beinen war, nahm er seine Trillerpfeife und
versuchte mit seiner letzten Puste, die beiden zurückzupfeifen. Die Trillerpfeifen waren einfach eklig, das Geräusch ging durch Mark Bein. Sie waren der Verzweiflung nahe: „Welches Stockwerk war es denn noch und welche Stubennummer hatten wir eigentlich?“ Von diesem Menschenstrudel wurden die beiden Soldaten in Zivil wieder in eine andere Richtung getrieben als sie wollten. So suchten sie noch eine Weile verzweifelt ihre Stube, um das kleine Gepäck loszuwerden. Dann wollten sie schnell in die Kleiderkammer, um die Erstausstattung an Uniform und Ausrüstung zu empfangen. Sie liefen kopflos durch die Flure, eilten Treppen rauf und wieder runter und dabei verloren sie sich für diesen Tag aus den Augen. Irgendwo oben angekommen brüllte ein Kapo (in der Soldatensprache ein Unteroffizier): „Was wollt ihr Zivilisten denn noch hier, zur Kleiderkammer geht es nach ganz unten. Haltet keine Maulaffen feil, verpisst euch ihr Panzerleichen und das Ganze ziemlich zügig!“ Unten angekommen schrie ein Kapo mit auffällig krummen Beinen: „ He, sie da mit dem lila Tangohemd, zur Kleiderkammer ein Stock höher! “ Günther mit seinem lila Freizeithemd war wieder an der Eingangstür angelangt wurde gleich wieder angeschrien: „Sie sollen doch nach oben, los marsch, aber schnell!“ Also lief Günther wieder hinauf. Oben angekommen fragte ihn ein uralter Kapo grob: “Welche Stube?“ „Ja, welche Stube, fragnse doch!“ „Ich frage doch.“ „Nu wernse mal nicht pampig Jüngelchen. Runter sach ich – frangse unten noch ma nach!“ „Wen denn?“ „Wen denn, das müssense selba wissen!“ Günther lief also wieder die Treppen hinunter und kämpfte gegen die graue Masse von Rekruten an, die in die entgegengesetzte Richtung schwappte. Und überall wimmelte es an Ausbildern, die nur ein Ziel hatte, die Neuen mal richtig aufzumischen, sie weich zu klopfen. Sie brüllten beispielsweise: „Beim Treppenlaufen müssen Sie waagerecht in der Luft liegen!“ „Mein Opa hat ein Holzbein und der ist schneller als sie Pfeife!“ Er holte noch einmal aus: „Ihnen machen wir noch Beine!“ Günther dachte: “So ein Blödsinn, ich habe doch schon Beine!“ „Sie sollten mal abnehmen, bewegen Sie ihren dicken Arsch etwas schneller!“ Günther schaute ihn verdattert an und setzte zur Frage an: “Ich such…“ „ Mann Sie geistiger Tiefflieger, sie müssen doch wissen, wo Sie hinwollen! „Los, jetzt aber Tempo, und zack, zack, ich will nur noch ihre Hacken sehen. Ich glaube, mein Schwein pfeift!“
Mit ihren simplen Methode hatten sie uns zunächst einmal gewaltig erschreckt. Aber sehr lange hielt unsere Schockstarre nicht an. Nach zwei Wochen hatten wir schon einen einigermaßen guten Durchblick und allmählich trauten wir uns aus der passiven Haltung heraus und wurden aktiv, wenn es denn sein musste. Sie hatten unser Ego angeknackst und wir fühlten uns von Mal zu Mal wohler, wenn wir es ihnen heimzahlen konnten, ohne dass sie es merkten. Nicht durch offene Revolution, sondern eher durch überlegene Intelligenz. Wenn die Kapos eine Gemeinheit gegen einen von uns angeordnet hat, drehten wir die Dinge so, dass die Typen glücklich einschlafen konnten, mit der Gewissheit: „Dem habe ich es mal wieder richtig gegeben!“ Zum besseren Verständnis erzähle ich später noch die Geschichte von Walter Koschinski . Ein sehr treffendes Beispiel. In den letzten 3 Wochen waren wir perfekt und die Geier griffen nur noch die Wehrpflichtigen an, die geistig nicht so ganz beweglich waren. Die meisten davon waren aber auch Schmerz-resistent und hielten die Widerwärtigkeit gleichgültig aus. Einer sagte einmal zu mir: "Es ist wie es ist, und Punkt!"
Günther hatte immer noch sein lilafarbenes Zivilhemd an und es war inzwischen völlig durchnässt. Dadurch hatte es eine tiefdunkle Tönung angenommen und passte nun aber farblich viel besser zu seiner Cordhose. Übrigens: Dieses Hemd liegt als Erinnerungsstück noch heute in seinem Kleiderschrank. So wie bei Bruce Low das Pferdehalfter an der Wand hing.
Damit es uns nie langweilig wurde, sorgten die Kapos mit allerlei Kurzweil für abwechslungsreiche Stunden. Zum Beispiel den Zugführer vom 3. Zug Oberfeldwebel Egbert Gruschel : „Wer kann Schreibmaschine schreiben?“ Wahrheitsgetreu meldete sich Günther in der Hoffnung irgendwelche Berichte tippen zu müssen, um dafür einige Stunden dem Drill aus dem Wege zu gehen. Aber die Antwort fiel anders aus als erwartet. „Prima Voraussetzungen Mertens, dann dürfen Sie heute Abend meine Stiefel putzen!“ Es war, als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet: Alle Menschen tragen oliv und sehen gleich aus. Ausschlafen, in Ruhe essen, diskutieren – war nicht. Überall dieses Geschrei: Befehl war Befehl! Wir erlebten eine große Umstellung gegenüber unserem zivilen Leben. Sich beschweren? Der Weg war gut eingerichtet. Schriftliche Eingaben durften nur an die nächsten Vorgesetzten gerichtet werden und waren somit etwas für die Mülltonne. Das war so, als ob wir uns bei dem Hund beschweren mussten, der uns gebissen hat. Die Gefahr war dann groß, ein zweites Mal gebissen zu werden oder auch noch öfter.